Lachend in die Kreissäge rennen: Die SPD, #NoGroko und Zukunftsangst
Liebe SPD,
ich bin nicht der erste Millennial, der euch einen offenen Brief schreibt, und ich werde auch nicht der letzte sein.
Und auch wenn ihr diesen Text höchstwahrscheinlich nie lesen werdet, juckt es mich in den Fingern, an einem Tag wie heute einmal konkret auszuformulieren, was mich bedrückt. Und das ist tatsächlich Einiges. Vielleicht könnt ihr ein paar der Angaben ja für euer Wählerprofil nutzen, so es euch denn tatsächlich interessiert, was wir zu sagen haben. Oder verbucht ihr alle Gegenreden als „Meinung einiger weniger Einzelner“?
Rufe ich mir eure Wahlplakate vom Sommer in Erinnerung, gehöre ich wohl exakt zu der Zielgruppe, die ihr so gerne ansprechen wollt: Gut ausgebildete Akademikerin aus einem Arbeiterkinderhaushalt, Anfang 30, mit echt viel Bock auf Arbeiten und noch mehr Bock auf Zukunft (ja, sogar mit Kindern!). Das ist doch schonmnal was!
Es kommt noch besser: Demnächst renoviere ich eine Wohnung, damit ich mit meinem Partner in absehbarer Zeit dort einziehen und eine Familie gründen kann. Und wenn ich dabeibleibe, bin ich demnächst sogar aus der Probezeit bei meinem Job raus. Ja, supi! Läuft also?
Die ewige Misere
Naja, es geht so. Und daran seid ihr leider nicht gerade unschuldig. Als Teenie habe ich mich naturgemäß eher für andere Sachen als für Politik interessiert: Jungs, Musik, tanzen gehen, solche Sachen eben. Zeitung oder Tagesschau habe ich nicht konsumiert, keine Lust. An eine Sache erinnere ich mich aber sehr deutlich: Die Demos auf den Straßen meiner Heimatstadt. Es ging um Gerhard Schröder, damals, und dass die Leute befüchteten, dass sie mit Hartz IV schlechter gestellt würden.
Plottwist: Nach der Uni war ich selber arbeitslos und musste durch die Jobcentermühle durch. Das Ganze ist keine Erfahrung, die ich unbedingt noch ein zweites Mal durchmachen möchte. Kontoauszüge, Rechtfertigungen, immerimmer der Druck, dass bald mal etwas passieren möge, bevor man in irgendwelchen Maßnahmen versandet.
Klar, gefährdet war ich als Mittzwanzigerin jetzt nicht so sehr, da auch wirklich im System verloren zu gehen, aber wer einmal einen Termin im Jobcenter gehabt hat, hat sie gesehen: Die zerlebten Gestalten, die mit Zetteln und motzigen Mitarbeitern zu kämpfen haben, die Zugezogenen aus anderen Ländern, die in gebrochenem Deutsch versuchen, den Antragswust zu überblicken.
All das sind strukturelle Probleme, sicherlich, und ihr habt das alles nicht so gewollt. Und trotzdem: Euch haftet der Makel von Hartz IV an. Das wisst ihr sicherlich. Aber interessiert es euch? Meine Beobachtungen sagen: Nö.
Und dann schaue ich mir über Jahre an, was ihr so treibt und was an die Öffentlichkeit gespült wird, als Wählerin, als Journalistin, als jemand, der am Zeitgeschehen interessiert ist. Ernsthaft, ’ne Groko? Und dann gleich nochmal? Und nochmal? Are you fucking serious?
Hier der Fragenkatalog, der mich nachts nicht schlafen lässt:
Was erwartet ihr denn, das die Leute von euch denken? Dass Herr Schulz erst ja sagt, dann nein, dann najavielleicht, dann einen Brief schreibt, dann mimimi macht und dann doch umkippt – was sagen eure PR-Berater dazu? Und überhaupt, PR: Wundert ihr euch nicht, dass ihr als „Umfallerpartei“ geltet – ich meine nicht die Stammtische der CDU-Altvorderen, sondern auch unter meinen Freunden, die, wie ich, gut ausgebildet und im Herzen sozialdemokratische Weltbürger Anfang 30 sind? Die lachen alle über eure „oohh, es gibt Gummibärchen auf dem Parteitag“-Tweets. Top!
Nehmt endlich eure Basis Ernst!
Wieso nehmt ihr eure eigenen Basis nicht Ernst? Wieso wird ein herausragender Kopf wie Kevin Kühnert, der genau für meine Generation steht und spricht, überall so dermaßen kleingehalten? Wieso kommt es mir so vor, als würde sich eure vorderste Riege permanent die Ohren zuhalten und „Lalalalala“ rufen, wenn jemand etwas von fehlenden Zukunftsperspektiven erzählt? Oder setzen wir mal früher an: Findet ihr, dass die Bezeichnung „Genosse der Bosse“ irgendwie positiv klingt? Welche Wählerschaft wollt ihr damit eigentlich ansprechen? Sagt euch Marc-Uwe Kling irgendwas? Sollen wir das Lied mal zusammen singen?
Und weiter: Wie kommt ihr auf die Idee, dass die Beschlüsse, die ihr mir und anderen als positive Errungenschaft verkaufen wollt, irgendwie in mein Leben passen? Beispiel „Baukindergeld“: Wie zur Hölle soll ich mir so etwas utopisches wie Bauland leisten? Ich habe kein Erbvermögen, auf das ich warten kann, sondern eine befristete Stelle, schon wieder.
Ich weiß nicht, wie und wann ich mir irgendwann mal Kinder leisten kann, von einem Luxusgut wie einem Auto oder gar einem Haus ganz zu schweigen. Meine Wohnung wird derzeit immer teurer, weil eure hirnrissige Mietpreisbremse nicht zieht, weil Berlin sich selbst ausverkauft, und eine neue finde ich nicht, weil es einfach nichts freies, annehmbares gibt (weshalb wir die alte ausbauen, remember? Und ja, das kostet auch. Günstiger wohne ich dadurch allerdings auch nicht.).
Zukunft, wozu?
Auch mit 2 halben Jobs lässt es sich zwar IRGENDWIE leben, aber so richtig geil ist das auch alles nicht. Einer davon: Freelancing, weil, Überraschung, die Firma keine Vollzeitverträge mehr macht, und, hohoho, Mindestlohn, is klar. Fällt auf meinem Gebiet halt einfach weg, weil nichts festgelegt ist und es keine Tarifpflicht gibt, juhu! Wer hätte das mal festlegen können? Achso, ja. Ich hab da so ne Ahnung. Und wozu dient eigentlich die sachgrundlose Befristung? Wollt ihr wirklich mit Angst regieren, also: noch mehr? Und dann?
Um das klarzustellen: Mir geht es nicht ums Geld, solange es nur um mich geht. Irgendwie klappt das alles, ich bin ein genügsamer Mensch und verstehe, dass es halt auch Saure-Gurken-Zeiten gibt und es unseren Eltern besser ging als es uns je gehen wird. Aber. Wie lange soll das denn so weitergehen? Ihr wollt mir das auch noch als Erfolg verkaufen, was ihr da gerade verzapft. Wenn es je einen Moment gab, in dem der Begriff „lachend in die Kreissäge rennen“ gepasst hat, dann jetzt. Ganz ehrlich, liebe SPD, ich habe exakt NULL Gründe, irgendetwas Gutes über euch zu sagen.
Ich will damit nicht sagen, dass ich politikverdrossen bin, absolut nicht. Im Gegenteil, ich war nie politikinteressierter als jetzt. Tatsächlich gibt es kaum einen interessanteren Zeitpunkt als jetzt, um auf der Welt zu sein, davon kann ich meinen Enkeln später erzählen. Das heißt, falls es überhaupt welche gibt. *bitteres Lachen*
Aber es wäre schon sehr toll, ein bisschen weniger Angst um die eigene Zukunft haben zu müssen. Vielleicht können wir mal langsam an die Menschen unter 70 denken? Beim Brexit wart ihr doch auch alle so mitleidig dabei, den Jungen zu versichern, dass das wohl nur eine Art Ausrutscher war, was da passiert ist.
Stattdessen macht ihr genau dasselbe: Ihr regiert gegen die Interessen derer, auf die ihr angewiesen seid. Interessiert euch Europa überhaupt noch? Oder irgendwas, was nach den 4 Jahren Groko kommt? Sieht gerade nicht so aus, muss ich leider sagen.
Ihr dürft mir gerne das Gegenteil beweisen.
Eure A.